Im Gegensatz zur Rezeption der ägyptischen Kunst (»Ägyptomanie«)
gehört die literarische Rezeption des alten Ägypten in der deutschsprachigen
Literatur - sieht man von Thomas Manns Josephsromanen
und von Rilkes Ägyptengedichten ab - zu den bislang vernachlässigten
Gegenständen der Forschung. Zu diesen gehört auch Hans Henny
Jahnns eingehende Beschäftigung mit dem alten Ägypten. Diese
manifestiert sich in seinem Werk allerdings nicht in erzählerischer
Form, sondern durch eingestreute Reflexionen. Dabei bearbeitet er
vor allem Fragen, die um die ägyptische Architektur und ihre von ihm
postulierte Vorbildfunktion für die Gegenwart kreisen sowie um Tod
und Begräbnis, Tiergottheiten oder um den Inzest im Isis-und-Osiris-
Mythos. Ihn interessiert dabei nicht das historische Ägypten, sondern
die von ihm postulierte Gegenwärtigkeit dieser Themen als Teil seiner
Ablehnung eines modernen Entwicklungs- und Fortschrittsglaubens.
Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist es, Jahnns Ägyptenbild
kritisch zu untersuchen. Dabei wird auch die Zeitgebundenheit seiner
Überlegungen thematisiert, die oftmals im Widerspruch zu seinem
Anspruch auf die Originalität und Unabhängigkeit seines Denkens
steht. Jahnns Reflexionen über Ägypten sind zudem als Teil einer
Ägyptenrezeption zu verstehen, die geschichtlich gesehen, zwischen
dem traditionellen, aus der Antike übermittelten Ägyptenbild steht
und einem modernen, in das bereits die Erkenntnisse der zeitgenössischen
Ägyptologie eingeflossen sind.