Geboren in der ehemaligen britischen Kolonie Indien verlief das Leben von George Orwell alles andere als geradlinig. Er besuchte Schulen in Indien und England, beherrschte mindestens zwei gebräuchliche Sprachen Indiens, arbeitete in diversen Gelegenheitsjobs, trieb sich als Landstreicher in England herum, studierte unter Aldous Huxley, verdiente sich als Polizist in Indien, nahm am spanischen Bürgerkrieg als Freiwilliger auf Seite der Republikaner teil und arbeitete Seite an Seite mit Ernest Hemingway als Kriegsberichterstatter. Als junger Mann stand er zwar kommunistischen Ideen offen gegenüber und in seinen frühen Texten finden sich auch antisemitische Vorurteile, doch mit der Zeit und in reiferen Jahren distanzierte sich Orwell öffentlich und in seinen schriftstellerischen Werken ohne Wenn und Aber von seinen jugendlichen Dummheiten. Womöglich durch die brutale Fremdherrschaft des Empires über Indien und durch Stalins organisierten Staatsterror und Massenmord angewidert entwickelte er sich zu einem überzeugten sozialistischen Demokraten, der alle Machtorgane von möglichst vielen Menschen organisiert und Machtumsetzung immer auf möglichst vielen Schultern verteilt sehen wollte. Einen großen Teil seiner prosaischen Werke bilden seine Essays ab, hier Teil 4. "Nord und Süd" charakterisiert bis heute in England gängige vorherrschende Klischees und Vorurteile unter der Bevölkerung des Südens und Nordens gegeneinander. So wie die "Profi-Experten" in Deutschland wissen, dass die Berliner alle Faulenzer, die Ostdeutschen alle ungebildete Bauern, die Süddeutschen dies, die Schwaben jenes, die Badener überhaupt alles, die Städter, die Landbewohner, die Gemeinde usw. was auch immer abbilden, genauso ist es - was für eine Überraschung - auch in England. Ist es irgendwo anders? Jedenfalls ist es aufklärend und amüsant diese Kleingeistigkeit durch die Brille eines europäischen Verwandten zu betrachten.